Hans-Dietrich Genscher - Eine Laudatio
von Prof. Dr. Dr. h.c. Dimitris Th. Tsatsos

Ich schulde einen tief empfundenen Dank, heute an dieser Stelle eine Laudatio über Hans-Dietrich Genscher halten zu dürfen. Denn: Die ehrenvolle Aufforderung, über die Persönlichkeit von Hans Dietrich Genscher anlässlich der Verleihung des Europapreises an ihn zu sprechen, empfinde ich nicht nur als Auszeichnung, sondern auch als großes und unverdientes Glück.
Bei der Vorbereitung der heutigen Laudatio führten mich meine Gedanken zurück in meine Jugend. Damals habe ich mich mit Musikgeschichte befasst und bin dabei auf die Biographie gestoßen, die Albert Schweitzer über Johann Sebastian Bach geschrieben hat.
Wäre Albert Schweitzer später geboren und hätte er die Biographie von Hans Dietrich Genscher geschrieben, würde er ihn - ich bin sicher - in die zweite Kategorie einordnen. Denn Hans Dietrich Genscher ist nicht Ausdruck, sondern Gestalter seiner Zeit. Seine Leistungen in der deutschen Außenpolitik und im europäischen Integrationsprozess gehören zur Geschichte Europas, mehr noch: Sie haben die Geschichte Europas mitgeprägt.

Meine Damen und Herren!
Politik ist meistens undankbar und ungerecht. Häufig gehen die Menschen mit der Politik nicht hart genug um, manchmal aber auch zu hart. Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass für den Bürger in seiner Beziehung zur Politik die Anerkennung der politischen Leistung sich nicht nur aus der Politik selbst, nicht nur aus der Qualität der Leistung, auch nicht nur aus der Dimension des Politikers ergibt. Politiker und Politik sind so schlecht oder so gut, wie sie von der öffentlichen Meinung beurteilt werden. Mit anderen Worten: Als Politiker - und das gilt ganz besonders für die medienbeherrschte und medienmanipulierte Demokratie - gilt man nicht nur als das, was man wirklich ist, sondern zugleich oder sogar vor allem als das, wofür man nach den Wünschen der Medien gehalten wird.
Hans-Dietrich Genscher ist ein seltener Durchbruch gelungen. Er hat sein wahres Bild, d.h. die Transparenz seines Bildes, durchsetzen können. Er wurde immer für das gehalten, was er auch wirklich war und ist! Das hat nicht nur für ihn, sondern auch - und zwar ganz besonders - für das Image seiner Heimat nur Gutes gebracht.
Als Hans-Dietrich Genscher Außenminister der Bundesrepublik Deutschland wurde, belasteten seine Heimat - so meine ich - zwei Gegebenheiten:
· die eine war die Tatsache, dass Europa und die Welt noch nicht ganz die Folgen des Zweiten Weltkrieges und die damit zusammenhängenden Verbrechen überwunden hatten,
· die andere war die Teilung Deutschlands.

Lassen Sie mich zu jener ersten Belastung zwei Worte sagen.
Hans-Dietrich Genscher ist im europäischen Ausland und - ich bin sicher - darüber hinaus in der Welt neben ganz wenigen anderen großen Politikern dieses Landes einer, der durch seine politische, geistige und menschliche Ausstrahlung erreicht hat, dass Deutschland und die Deutschen wieder ins Herz der Menschen in der Welt geschlossen wurden.
Diese Aufgabe, Deutschland wieder in das Herz der Menschen einzubringen, war - gerade für einen deutschen Außenminister - sehr subtil und entsprechend schwierig. Für diese Aufgabe hätte die Persönlichkeit eines Prominenten nicht gereicht. Die historische Stunde hat nach mehr verlangt; sie hat nach dem großen Mann gerufen. Denn, er musste in seinen diplomatischen Begegnungen, in seiner Begegnung mit den Bürgern des Auslands, zwei Dinge verbinden, die nach außen zunächst unvereinbar schienen.
· Einmal ein tief empfundenes und schmerzhaftes Eingeständnis, dass Deutschland, wenn auch ein anderes Deutschland, der Menschheit aber auch dem Deutschen Volk schweres Unrecht getan und viel Unheil gebracht hat.
· Zum Zweiten, aber auch zugleich geradezu uno actu, die selbstverständliche und ehrenvolle Pflicht eines deutschen Außenministers, bei seinen Auftritten eine Haltung einzunehmen und eine Sprache zu sprechen, die geprägt sind durch den geschichtlich berechtigten Anspruch Deutschlands und der Deutschen, stolz auf die deutsche Heimat zu sein.

Hans-Dietrich Genscher hat beides in genialer Weise verbunden.
Nochmehr: Er hat aus diesen beiden, nicht leicht zu vereinbarenden Aufgaben, eine ethische Einheit gemacht. Diese Einheit von Eingestehen und Stolz ist ihm deshalb gelungen, weil sie bei ihm keine Taktik waren. Sein Wesen war es, das seine Haltung und seine Sprache prägte. Er konnte gar nicht anders, als gleichzeitig die tief empfundene Trauer über das begangene und zugefügte Unrecht mit dem Stolz zu verbinden, Deutschland und die Deutschen außenpolitisch zu vertreten. Ein Stolz, das Land von Goethe, Hegel, Marx, Beethoven und Händel, das Land, das die große und konstitutive Kraft im europäischen Integrationsprozess ist, das Land des Friedens, das Land, das der Welt wieder unendlich viel gibt. Ich kann es verstehen: Dieses große Volk und seine Heimat zu repräsentieren, setzt Größe voraus, zugleich aber muss es ein großartiges Gefühl geben.

Der geschichtliche Prozess, der mit der Wiedervereinigung Deutschlands einsetzte, hat nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern ganz Europa neu geprägt. Erst hierdurch hat Europa seine eigentliche Dimension erhalten und ist seinem geschichtlichen Ziel näher gekommen, nämlich die Folgen des Zweiten Weltkriegs aus der Welt zu schaffen.
Somit ist Hans-Dietrich Genscher nicht nur ein großer Deutscher, sondern zugleich ein großer Europäer, der den Integrationsprozess wesentlich bestimmt und geprägt hat.
Die historischen Leistungen von Hans-Dietrich Genscher aber ergeben sich nicht nur aus dem, was er getan und gesagt hat, sondern auch - und das ist mir sehr wichtig - aus dem, was er ist. Ich weiß nicht, ob die Akzeptanz von Hans-Dietrich Genscher in der ganzen Welt so verbreitet wäre, wie sie es ist, wenn er nicht auch als Mensch die entsprechende Größe und Ausstrahlung hätte.

Wir, seine engen Freunde, die nicht alle seiner politischen Familie gehören, haben das Privileg, den auch menschlich großartigen Genscher erleben zu dürfen.
· Man kann es nicht fassen, wie er gleich nach einem Auftritt im großen Weltgeschehen mit dem gleichen Engagement und einer unglaublichen Wärme mit den einfachen Menschen - mit uns, seinen Freunden -über das Alltägliche, über Kummer und Freude, über Hoffnung und Enttäuschung, auch über Liebe spricht.
· Mit einem Wort: Hans-Dietrich Genscher besitzt die große und schwierige Kunst, ein wahrer Freund zu sein, vor allem ein Freund der schweren Stunde!
Meine Damen und Herren, es wäre ein unglaubliches Versäumnis, würde man es unterlassen, die Fähigkeit von Hans-Dietrich Genscher herauszustellen, das Komische und Witzige des Lebens zu sehen, selbst zu genießen und für die anderen lebhaft zu artikulieren.
· Witz kann eine sehr ernste Sache sein, die auch für die Politik sehr wichtig sein kann.
· Humorlosigkeit kann, auch gerade in der Politik, schädlich sein. Man sollte sich vor humorlosen Politikern in Acht nehmen.
· Außerdem: Die Größe eines Menschen kann nie partiell sein. Auch darin unterscheidet sich der Große von dem Prominenten. Genscher gehört eben, unter den vielen bedeutenden Prominenten, zu den wenigen Großen.

Meine Damen und Herren, ich komme zu meiner letzten Bemerkung:
Die Wissenschaft bemüht sich in letzter Zeit ganz besonders, den Europabegriff zu klären.
· Auch ich ringe zur Zeit um dieselbe Frage.
· Ist Europa geographisch oder von der Religion oder von der Kultur her definierbar? Was ist der Inbegriff des Europäischen?
· Ich komme zu dem Ergebnis, dass Europa nicht definierbar ist. Je großartiger etwas Weltgeschichtliches ist, desto weniger ist es einer Definition zugänglich.
· Außerdem kann man Prozesse oder Begriffe, die sich im ständigen historischen Wandel befinden, ohnehin nicht definieren. Denn die Definition wäre die Negation seiner Geschichtlichkeit.

Europa, so meine ich, wird erst erkennbar, spürbar, sichtbar, besonders im menschlichen Verhalten - im politischen Denken, in der politischen Haltung und in der persönlichen Haltung.
Du hast uns überzeugend gezeigt, dass wir auf dem langen Weg zu einem gemeinsamen Europa nur erfolgreich sind, wenn Verstand und Herz im Gleichklang sind.
Hans-Dietrich Genscher ist in und durch Verstand und Herz Ausdruck des Europäischen.

Hochverehrter Freund!
Für all das wollen wir im Ausland, wir in Deutschland, wir in Europa, wir in der Welt, Dir ein sehr tief empfundenes Danke sagen.


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