KulturPreis Europa 2009 nach Rumänien unter dem Aspekt

"Rumänien ist mehr ... - Positives aus dem neuen EU-Land"

Sehr geehrte Gäste beim Festakt der Verleihung des KulturPreis Europa 2009.


Kultur ist nichts Natürliches. Es handelt sich um eine Leistung, die der Natur "abgetrotzt" werden muss. Dies gilt auch und gerade für Europa.

Alle denkbaren positiven (geistigen, kulturellen und sozialen) Aspekte, die zu dieser Idee geführt haben, sind gefährdet, wenn nationale Egoismen die Gemeinschaft als Ganzes ignorieren. Europa ist förderungswürdig und wertvoll in der Gesamtheit des kulturellen und sozialen Erbes jedes einzelnen Staates, das es einzubringen, zu integrieren und zu nutzen gilt.

Der KulturPreis Europa macht darauf aufmerksam, in dem er im Jahre Eins von Europa, 1993, ins Leben gerufen wurde - Persönlichkeiten auszeichnet, die die Idee Europa ausarbeiten und zu ihrer Verwirklichung beitragen: Persönlichkeiten, die unter Einsatz ihrer ganzen Kraft dazu beitragen, dass auch andere wahrnehmen, dass die Idee Europa eine Chance bedeutet, das Modell friedlichen Zusammenlebens vieler verschiedener Menschen zu sein, deren Verschiedenheit als willkommenes Potential, als Mitgift gesehen wird, als Möglichkeiten, die bei der Lösung der vielfältigen anstehenden Probleme nützlich sein können und nicht etwas Angsterzeugendes, Fremdes, das es zu vernichten gilt.

Unter einer jungen, kreativen Leitung mit Maria-Adriana Hausvater als General-Direktorin, Ion Rizea ihrem Kooperator und Schauspieler, sowie einem soziokulturell emotional engagierten Regisseur Radu Afrim entstand hier ein neues Gesamtkunstwerk, ein Radu-Afrim-Spektakel, das begeistert. Der italienische Autor Fausto Paravidino schrieb “Die Krankheit der Familie M“, angesiedelt in einem Italien, dem er selbst entflohen ist, das der Tourist nicht kennt und wohl auch nicht mag. Und dies finden wir wieder, von Radu Afrim ins Rumänische transponiert.


Keine Landschaften endloser Weite, kein zielloser Highway mit altem Fiat am Rand, die ins italienische Nichts führen, einzig die Sprache der Straße ist erhalten geblieben. Das erwartet der Kenner von Afrim-Inszenierungen, und auch hier wird er nicht enttäuscht: Es gibt keinen ausweglosen Tod, keinen nutzlosen Untergang, das Negative wird umgekehrt in eine neue theatralisch positiv reale Schönheit geformt. Er will nicht die Gesellschaft verändern. Er zeigt eine geselschaftliche Randgruppe aus Rumänien, die mit ihren Problemen überall angesiedelt sein kann.

Das Ambiente eines ehemaligen Militärgebäudes, „ausgebaut“ in ein „Set“ von Velica Panduru für das Spektakel, eine Hülle aus ruinösem Bau und leuchtend rotem Holzschliff-Boden, daraus karges Gestrüpp sprießt, aus dessen „Lichtungen“ weitere Spielorte erwachsen, breitet sich vor uns aus als Ort voller Symbolik.

Hier lässt der Regisseur eine scheinbar typisch rumänische „Familienkrankheit“ ablaufen, begeistert aufgenommen von einem Kultur hungrigen und intellektuell jungen rumänischen Publikum, das die Sprache, in die Alice Georgescu übersetzt hat, kennt, versteht und wohl auch um die Alltagsprobleme weiß, sie jedoch häufig ablehnt und Unverständnis zeigt.


Da faszinieren die dreidimensionalen Bilder, die Radu Afrim, der auch ein ausgezeichneter Fotograf ist, entwickelt. Öde, Langeweile, Dialoge, die ständig aneinander vorbeigehen, sind eingebettet in den farbigen Raum und das Gefühl, es entstehen ständig neue, lebende Bilder. Hier werden der Alltag, die Gosse und die darin Herumvegetierenden zu einem wunderbaren Radu-Afrim-Gesamtkunstwerk aus Farbe, Form, Aktion und Geräuschen: der Schmutz hat eine Farbe, die Langeweile einen Namen, ein kunstvolles Puzzle direkter Hinwendung von Regisseur, Szenerie und Akteuren zur gesellschaftlichen Realität und zum Alltag, um daraus eine neue Schönheit zu erschaffen. Nicht umsonst endet die Afrim-Version nicht mit Tod und Chaos. Hier steigt die Action der Straße wie ein Phoenix aus der Asche auf zu einem farbenprächtigen, emotionalen Bild, das Afrim in allen seinen Stücken in Szene setzt und immer fotografisch festhält.

Das weckt die Erinnerung an Pier Paolo Pasolini, der sich stets dem Milieu der römischen Vorstädte verbunden fühlte und für dessen kleine Diebe, Strichjungen und Mörder er Sympathie empfand. Und auch hier liegt Jahre später in Rumänien die Wirklichkeit.

Während Pasolini dem damaligen Italien in unerhört realistischer, radikaler Sprache die Verlogenheit der italienischen Nachkriegsgesellschaft entblößte und seinen Vorstadthelden ein Denkmal setzte, bleibt Afrim allgemeiner, multi-nationaler und erweist einer sich rasant schnell ausweitenden sozial ausgegrenzten gesellschaftlichen Schicht die Hommage.

Wie Pasolini setzt sich Radu Afrim mit den unmöglichen Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen auseinander. Doch seine „wohlproportionierten“ Helden gehören ihm.  Er schenkt sie uns als Bilder, wir dürfen sie anschauen und die Erinnerung mit nach Hause nehmen.

Hier bin ich besonders glücklich noch einmal die Bedeutung des Regisseurs und des TNT für Rumänien und Europa zu unterstreichen. Diese Inszenierung wird in den nächsten Wochen 11 Tage lang en suite im Pariser Odeon Theater gezeigt, und ich bin sicher, sie wird höchstes Lob erhalten. Dies ist um so wichtiger, da so wieder Positives aus Rumänien nach Europa schwingt, ein Ziel, welches ich mir mit dem KulturForum Europa und als Journalist seit mehreren Jahren in jeder Aktion und Publikation gestellt habe.


Werden Pasolinis Sujets, die technische Ausführung, der Einsatz von Laiendarstellern aus dem dargestellten Milieu als bedeutender Beitrag zum italienischen Neorealismus beschrieben, so liefert Afrim farbige Szenen gesellschaftlicher Missstände, die so beinahe überall im Europa einer immer mehr globalisierten Welt existieren, mit dem der rumänische „Theatermacher“ höchst eigenständig aufwartet. Er erschafft mit seinen szenischen Bildern wundervoll süß-saure Märchen, inszeniert europäische Bilder, die in Neapel, Marseille, Manchester, ... und vielen anderen Arbeitervierteln am Rande der Großstädte entstehen können, löst interkulturelle Wechselwirkung aus, erzeugt  interkulturelle Sensibilität, fördert emotionale Kompetenz mit einer vielfarbigen Botschaft von Toleranz, Akzeptanz und Diversity in Rumänien für sein Landsleute und für Europa.


Wenn ausländische Politiker (z.B. erst vor kurzem der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger) bemerken, dass sie "einen guten Eindruck mit nach Hause nehmen" und "Aufbruchstimmung gespürt haben", so finden wir hier in Timisoara, im TNT und beim Regisseur Radu Afrim grundlegende Wurzeln dieses Statements. Rumänien sei "ein großes Land mit großen Chancen" und für die Entwicklung der Infrastruktur müsse aber noch viel getan werden, damit das Land endgültig europattauglich werde, sagte Oettinger mit Blick auf den noch ungenügenden Ausbau der Fernstraßen. Der Prozess sei noch langsam, führe aber "in die richtige Richtung". So lautet das kurze Urteil eines Politikers.

Aber das alleine ist nicht das Land Rumänien, nicht die Region Transsylvanien und nicht Timisoara, der Politiker spricht Äußerlichkeiten der Infrastruktur an, ohne hier den notwendigen soziokulturellem Background zu erfassen.

Das KFE arbeitet darüber hinaus stetig an der Idee "Europa auf dem Land". Dort wird Europa gemacht. In den Köpfen der Bürger entsteht Europa. Es gibt viel zu tun, um der Angst vor etwas Neuern, Fremdem entgegen zu arbeiten, um Vorurteile abzubauen, um ein Stück auf dem Weg zur Toleranz und Akzeptanz voranzukommen.

Und hier sind wir wieder in Timisoara angekommen, meine Damen und Herren.Im vergangenen Jahr hatte ich die Möglichkeit anzuschauen und zu erfahren, was in Timisoara kulturell und künstlerisch geschaffen wird, wie hier im Westen Rumäniens die europäischen Stränge zusammenlaufen. Die Region ist eine ganz besondere.

Wir wissen, wie sich von diesem Ort, dem Theater, der Gedanke der Freiheit ausgebreitet hat. Aber auch die Idee eines multi-kulturellen Miteinanders ist hier bereits seit 400 Jahren verankert, eine europäische Errungenschaft, auf die sie stolz sein können und müssen und welche in vielen europäischen Ländern - trotzt Anstrengungen - noch lange nicht so weit gediehen ist. (Wir in Deutschland sind bislang mit "Multi-kulti" gescheitert, es werden ungeheure Anstregungen in diesem Sinne unternommen).

Ich bitte Sie sehr, das nicht zu vergessen und stolz auf dieses positive Beispiel aus Rumänien als Vorbild für unsere europäische Gemeinschaft zu sein und eine derartige Gesellschaftsform zu bewahren, zu pflegen und zu erweitern. 

Und damit sind wir wieder beim KulturPreis Europa 2009, die Auszeichnung für eine Leistung, die nicht originell sein muss, aber unverzichtbar für den europäischen Gedanken auf dem Weg zu einem gemeinsamen europäischen Haus. Der Unterschied zu anderen europäischen Preisen besteht im Blick nach vorn. Es werden Ideen und Leistungen ausgezeichnet, die nicht abgeschlossen sind und deren Bedeutung im zukunftsorientierten Aspekt liegen.

Wenn ich jetzt die Ehre und persönliche Freude habe, den KulturPreis Europa 2009 zu überreichen, so möchte ich dies tun für Radu Afrim und das TNT mit seiner gesamten Crew, Timisoara und die rumänischen Bürger, die unsere europäischen Nachbarn im gemeinsamen europäischen Haus sind, über die wir noch Vieles erfahren wollen. Es lohnt sich der Mühe, uns gegenseitig kennen und schätzen zu lernen. Daran arbeiten die Preisträger weiter, das weiß ich, und dazu möchte Sie alle im Gegenzug auch einladen.

Meine Damen und Herren, während meines letzten Aufenthalts im Oktober 2008, wurde eine Inszenierung des Regisseurs Radu Afrim im Osten Rumäniens verboten. Eben dieses Stück und Radu Afrim  sind für den nationalen Preis als bestes Stück und bester Regisseur nominiert. Ein erfreuliches Zeichen aus Bukarest, das uns Hoffnung macht. 

Verehrte Gäste, das KulturForum Europa ehrt in diesem Zusammenhang als ein Zeichen europäischer Diversity, den Regisseur Radu Afrim und das TNT für Ihre Verdienste, als Kulturbotschafter zwischen Ost und West in Europa nationale Grenzen und kulturhistorische Barrieren zu überwinden und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge in Rumänien und Europa zu verdeutlichen, mit dem KulturPreis Europa 2009.


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