Das "Verschwinden" im Theater Ruse, Bulgarien

Die Geschichte der rumäniendeutschen Schriftstellerin Elise Wilk „Verschwinden“ befasst sich mit einer siebenbürgischen Sachsenfamilie von 1945 bis heute, den Folgen von Krieg, Verlust der Heimat, Auswanderung, in einem nicht nur typisch rumänisch-deutschen Sinne.

 

In der Produktion des Theaters "Sava Ognyanov" im bulgarischen Ruse, in direkter Nähe zu Rumänien, interpretierte der Moldauer Regisseur Dumitru Acris die Handlung in drei Episoden dieser Historie in bulgarischer Erstaufführung. „Verschwinden“ bedeutete hier gleichsam die Auflösung einer Gesellschaft. Im Mittelpunkt standen drei Frauen aus drei Generationen einer Familie. Von 1945 und Russlanddeportation bis zu 1989, Flucht vor der Ceaușescu-Diktatur, dann zerplatzte Träume vom reichen Deutschland auch noch nach dem Beitritt Rumäniens zur EU um 2007.

 

Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler schlüpften auf drei verschiedenen Zeitebenen in die Rollen der jeweiligen Familienmitglieder. In drei Wintern zu Zeiten großer historischer Umbrüche sahen wir sie lieben, streiten, um ihre Träume kämpfen, verzweifeln und neu beginnen. Gehen oder Bleiben?

Geschichte und Spiel um das Trauma der Gesellschaft der Siebenbürger Sachsen (Rumäniendeutschen) bettete Regisseur Acris dramaturgisch ein in zahlreiche szenische Bilder und Elemente um Bewusstwerdung zwischen Elend, Frust und Brutalität unter absichtlicher Auslassung von komödiantischen Aspekten des Wilkschen Urtexts. Das hinderte die Protagonisten letztlich daran, innere Ressourcen zu finden. Die Tragödie der Geschichte konnte und sollte hier wohl nicht bewältigt werden.

 

„Osteuropa steht im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine, der sich jetzt jährte, mehr denn je im öffentlichen Fokus. Ohne den Blick nach Osteuropa, die Thematisierung der Umbrüche von einst und heute bleibt das Bild unserer Welt und der aktuellen Entwicklungen ein unvollständiges.“

 

Mit „Verschwinden“ brachte das Theater Ruse eine ganz besondere Inszenierung osteuropäischer Dramatik auf die Bühne.

 

Jede Generation stellt sich diese Frage neu. Flucht und Vertreibung sind Themen, die erneut eine große Rolle spielen. Historische Umbrüche und Unsicherheiten sind Erfahrungen, die vielen Menschen gerade im Osten Europas vertraut sein dürften und die auch hier in Ruse derzeit wieder eine aktuelle Brisanz besitzen.

 

Im passenden minimalistischen Bühnen- und Kostümbild von MC Ranin forcierte Dumitru Acris die Darsteller zu extremen Höchstleistungen. Als „Stanislavski“ Kenner und Könner dirigierte er alle bis in jeden einzelnen „Wimpernschlag“, zwang die Protagonisten in ein Korsett, welches keinerlei eigene schauspielerische Attitüde zuließ. In dieser Bühnenschau griff alles präzise getaktet wie Zahnräder des Uhrwerks seiner Regie ineinander, vom Kampf um Leben, Verzweiflung, Neubeginn und nahezu kaum Hoffnung.

 

Der ständigen Wiederholung von Verschwinden fügte der Regisseur eine aktuelle Komponente hinzu. Während Zeichen von Nazi-, Ceausescu- und EU-Zeitraum rechts und links des Bühnenraums optisch den Fortgang der Story erläuternd erleuchteten, blinkten zum Ende Ukraine- und Russland-Flaggen zu einsetzendem Sirenengeheul auf. Die Darsteller verschwanden, nachdem ihre Geschichten übermittelt waren, und die Zuschauer wurden successive ins Ausweglose eines erneuten Krieges entlassen. Wieder stellte sich die Frage: Bleiben oder gehen?

 

"Das Publikum kann von dieser Show eine Menge bewegender Geschichten und psychologisches Theater erwarten, das in Bulgarien leider nur noch selten gespielt wird. Es ist eine fremde Form, aber im schönen Sinne des Wortes und auf jeden Fall ist es spannend", so Theaterchef Boian Ivanov.

 

"Diese Vorstellung ist eine Herausforderung und ein Vergnügen. Ich denke, dass immer mehr Menschen in dieser Welt der Digitalisierung, in der wir Zugang zu allen möglichen Dingen haben, nach dem Menschlichen suchen. Der Zuschauer möchte echte menschliche Emotionen spüren, die Wärme unseres Körpers, die Tränen in unseren Augen, echtes Lachen. Ich glaube, dass dies für einen Schauspieler das Wertvollste ist, was ihm passieren kann: zur Essenz des Schauspielerberufs und des bedeutungsvollen Theaters zurückzukehren", attestierte Schauspielerin Kristiana Tsenkova.

 

Eben erst fand auch die deutsche Premiere in den Uckermärkischen Bühnen Schwedt/Oder statt. Das Theater „Sava Ognyanov", Ruse, ist im Juni mit "Verschwinden" zum Internationalen Babel-Festival in die rumänische Stadt Targoviste eingeladen. Die Aktualität des Sujets ist gewiss dazu angetan, noch Aufführungen in weiteren Ländern nach sich zu ziehen.

Text: Dieter Topp
Fotos: Stefan N. Shterev und PPS


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